
Lange Zeit dachte ich, dass mein Wunsch, es allen recht zu machen, einfach nur eine nette Eigenschaft sei. Ich war hilfsbereit, aufmerksam, anpassungsfähig — und innerlich oft völlig erschöpft.
Erst viel später dämmerte es mir, dass dieses Verhalten mehr als nur bloße Freundlichkeit ist. Es ist eine Überlebensstrategie. Es ist der sogenannte Fawn Response — eine
traumabedingte Reaktion, die vielen Menschen gar nicht bewusst ist.
Was ist der Fawn Response?
Wenn unser Nervensystem eine Bedrohung wahrnimmt, reagiert es reflexartig — mit Angriff (Fight), Flucht (Flight), Erstarrung (Freeze) oder eben mit Fawn, also „Besänftigen durch Gefallen“.
Der Fawn Response ist weniger bekannt als die anderen Reaktionen, weil er oft sozial erwünscht aussieht: freundlich, rücksichtsvoll, selbstlos. Doch hinter der
Maske steckt häufig ein tief verinnerlichter Schutzmechanismus.
Beim Fawn Response versuche ich Sicherheit herzustellen, indem ich mich anpasse, anbiete, meine Bedürfnisse zurückstelle oder sogar verleugne — in der Hoffnung,
Konflikte zu vermeiden und nicht abgelehnt zu werden.
Wie unterscheidet sich der Fawn Response von den anderen Trauma-Reaktionen?
Im Gegensatz zu Fight, Flight oder Freeze ist Fawn nicht rein biologisch gesteuert, sondern sozial erlernt — meist in der frühen Kindheit. Wenn ich zum Beispiel in einem Umfeld
aufgewachsen bin, in dem ich nur dann Anerkennung oder Liebe bekam, wenn ich mich angepasst habe, dann habe ich gelernt: Gefallen = Sicherheit.
Diese Strategie hat mir als Kind geholfen, emotional zu überleben. Als Erwachsenen jedoch blockiert sie mich oft. Ich sage „Ja“, wenn ich „Nein“ meine. Ich spüre meine eigenen Grenzen nicht. Ich
habe Angst vor Zurückweisung, selbst in scheinbar harmlosen Situationen.
Wie zeigt sich der Fawn Response im Alltag?
Der Fawn Response kann viele Gesichter haben. Ich erkenne mich darin wieder, wenn ich:
- ständig für andere da bin, aber nie um Hilfe bitte
- ein schlechtes Gewissen habe, wenn ich meine Meinung sage
- Konflikte vermeide — selbst wenn es zu meinem Nachteil ist
- mich verantwortlich für die Gefühle anderer fühle
- mich selbst verleugne, um in Beziehungen akzeptiert zu werden
Oft habe ich nicht gemerkt, wie sehr ich mich selbst dabei verliere. Heute weiß ich: mein Körper hat mir alle Warnsignale gegeben: Erschöpfung, Schlafstörungen und Migräne.
Woher kommt der Fawn Response?
Die Wurzeln liegen meist in der Kindheit — vor allem in Bindungserfahrungen, die nicht sicher waren. Vielleicht waren die Eltern unberechenbar, emotional
abwesend oder überfordert. Als Kind habe ich dann gelernt: Ich darf nicht auffallen. ich muss mich kümmern. Ich muss lieb sein, um gemocht zu werden.
Das Fatale: Diese Dynamik setzt sich oft im Erwachsenenleben fort — in Partnerschaften, im Beruf, in Freundschaften. Ich funktioniere, um geliebt zu werden. Ich gebe, damit ich bleiben
darf.
Was hilft, aus dem Fawn-Modus auszusteigen?
Der erste Schritt ist: Erkennen, dass es diesen Mechanismus überhaupt gibt. Ich habe damit begonnen, mein Verhalten liebevoll zu beobachten — ohne mich dafür zu
verurteilen.
Dann kommt das Üben: kleine „Neins“, offene Gespräche, ehrliches Mitteilen, bewusst gesetzte Grenzen. Nicht immer leicht, aber unglaublich befreiend.
Besonders hilfreich sind:
- Körperorientierte Therapieformen wie z.B. Somatic Experiencing, NARM
- Innere-Kind-Arbeit: Dem verletzen Anteil in mir zuhören
- The Work of Byron Katie: Untersuchung der Glaubenssätze
- Journaling und Achtsamkeit, um wieder Kontakt mit meinen Bedürfnissen aufzunehmen
- Beziehungen, in denen ich nicht leisten muss, um akzeptiert zu werden
- Teilnahme an einer Lokalen Gruppe / Ehrliches Mitteilen (Selbsthilfegruppe)
Warum ich über den Fawn Response schreibe
Weil ich weiß, wie viele Menschen ihn leben — ohne ihn zu kennen. Weil ich es selbst als so entlastend erlebt habe, zu erkennen, dass diese Reaktion eine
Überlebensstrategie ist. Ich brauche mir keine Vorwürfe zu machen, es trifft mich keine Schuld. Ganz im Gegenteil: mein System hat dafür gesorgt, dass ich beschützt werde.
Heute kann ich sagen: Ich darf Grenzen haben. ich darf Bedürfnisse haben und ich darf mich selbst ernst nehmen.
Quellen und weiterführende Literaturempfehlungen:
Pete Walker – "Complex PTSD: From Surviving to Thriving"
→ Der Begriff „Fawn Response“ wurde durch Pete Walker geprägt. Er beschreibt ihn als eine von vier Traumareaktionen bei Menschen mit Entwicklungstrauma oder C-PTBS. https://www.pete-walker.com
Deb Dana – "The Polyvagal Theory in Therapy"
→ Aufbauend auf Stephen Porges’ Polyvagal-Theorie: erklärt, wie soziale Anpassung (inkl. Fawn Response) mit dem autonomen Nervensystem zusammenhängt.
Stephen W. Porges – "The Polyvagal Theory"
→ Neurobiologische Grundlage dafür, wie unser Nervensystem auf Sicherheit/Bedrohung reagiert, inkl. sozialer Schutzstrategien wie Fawning.
Gabor Maté – "When the Body Says No"
→ Zusammenhang zwischen unterdrückten Emotionen, übermäßiger Anpassung und körperlichen Symptomen.
Bessel van der Kolk – "The Body Keeps the Score"
→ Ein Klassiker zum Thema Trauma, Körperreaktionen und langfristige Folgen chronischer Stressmuster.